Wenn nach 2 Wochen Nordland das Essen ausgeht – Martin Hülle im Interview

Martin Hülle ist Fotograf, Autor und Polarabenteurer. Wer bei dieser Berufsbeschreibung nicht vor Spannung der Geschichten, die da kommen mögen, an den Fingernägeln kaut, dem ist auch nicht mehr zu helfen. Mit 17 veröffentlichte er seinen ersten Artikel über das temporäre Wohnen unter freiem Himmel und schaut seitdem nicht mehr zurück. Fasziniert vom Nordland zieht es ihn immer wieder in die kalten Regionen. Anfang des Jahres dann der Schock der eigenen Verletzlichkeit und ein Reboot mit Sorgfalt. Seine Gedanken und Reisen teilt er nicht nur mit Zeitschriften, sondern findet Ihr auch immer sehr aktuell in seinem Blog. Ein Reisetagebuch seiner Expeditionen bis ins Jahr 2006 findet Ihr hier. Und jetzt, viel Spaß mit dem Interview und einem sehr sympatischen Martin Hülle. Bühne Frei.

Hallo Martin, wer bist Du? Ein kurzer (Ab-)Satz über Dich und Dein Leben mit der Fotografie, für alle, die Dich nicht kennen!
Mein Name ist Martin Hülle und ich bin ein Fotograf, Autor und Polarabenteurer aus Wuppertal. Ich liebe die abgeschiedenen Regionen des hohen Nordens – in Skandinavien, Island, Schottland und Grönland. Seit mehr als 20 Jahren durchstreife ich Berglandschaften und Gletscherwelten im Sommer wie im Winter.

Meine Leidenschaft ist die Reise-, Landschafts- und Outdoorfotografie. Mit dem Fokus auf der Natur, aber ebenso einem Auge auf den Menschen, Stillleben und allem kuriosen vor der Kamera. Ich möchte die Welt entdecken. In weiter Ferne und direkt vor der eigenen Haustüre. Ich möchte Geschichten erzählen. Die Fotografie und das Schreiben sind eine Lebensart, eine Möglichkeit Gefühle einzufangen, auszudrücken und mit anderen zu teilen.

martin-huelle-interview02
© Martin Hülle

Wann hat es bei Dir klick gemacht und Du wusstest: Fotografieren und Schreiben ist das, womit ich meinen Lebensunterhalt bestreiten will? Welche Steine musstest Du auf Deinem Weg beiseite räumen?
Eigentlich „klickte“ es sehr früh. Bereits über meine erste richtige Wandertour – mit 17 Jahren vier Tage allein durchs Sauerland – erschien eine Reportage im Magazin outdoor. Da dachte ich, das könnte was werden … Doch bis ich schließlich den Schritt in die Selbständigkeit und die Professionalität gewagt habe, vergingen noch etliche Jahre. Steine gab es viele. Ein „falsches“ Studium, das ich ratzfatz wieder an den Nagel gehängt habe. Jobs im Outdoorfachhandel. Aber daneben immer das Reisen, Fotografieren und Schreiben. Irgendwann war klar: Entweder geht es nur ganz oder gar nicht – oder mit all dem „nebenher“ einfach nicht zufriedenstellend.

Aber auch heute ist das kein Selbstläufer. Das Genre in dem ich mich bewege ist sehr speziell, wird von vielen bedient und ist sehr hart umkämpft. Honorare sind mäßig. Da braucht es viel Leidenschaft, Durchhaltewillen und Motivation, um immer dran zu bleiben.

martin-huelle-interview03
© Martin Hülle

Du lebst so nah am Pott, in einer Stadt, die nicht für Ihre Schönheit, sondern nur für eine Schwebebahn bekannt ist: Wuppertal. Was hält jemanden, der eigentlich immer wieder die Einsamkeit und Schönheit der Natur sucht, an diesem Ort?
Naja, die Natur ist hier allerdings nicht weit weg. Ich kann von der Haustüre los laufen und bin recht schnell im Wald. Was interessiert mich da die weniger schöne Stadt? Natürlich ist das nicht vergleichbar mit den Regionen, in die ich am liebsten aufbreche. Wahrscheinlich hielt mich aber die Familie hier. Es gab einfach keinen triftigen Grund, hier wegzuziehen. Schließlich ist der Düsseldorfer Flughafen auch nicht weit entfernt und so ein Tor in die Welt immer greifbar nah.

Du fotografierst mit der Fujifilm X-Pro1 und scheinst sehr zufrieden. Mit dem kompletten Wechsel von einer DSLR hast Du einen konsequenten Schritt gemacht. Wem würdest Du dieses fotografische Werkzeug ans Herz legen? Ist es ein ausreichender Ersatz für Deine DSLR, oder gibt es Momente, in denen Du Deiner Ex-Kamera nachtrauerst?
Ja, ich liebe Fujifilms X-System. Es ist für mich die Konzentration auf das Wesentliche. Und die X-Pro1 ein Werkzeug mit Ecken und Kanten, aber genauso geradlinig auf dem Weg zum entscheidenden Moment. Wer eine Symbiose aus herausragender Bildqualität und „klassischer“ Bedienung sucht, wird in der X-Pro1 (und X-E1) fündig. Sie versprüht etwas analoges und ist doch ganz digital.

Nein, meinem Nikon DSLR-Geraffel trauere ich bislang nicht nach. Ich war nie der Action-Fotograf, der den schnellsten Autofokus oder die höchste Serienbildgeschwindigkeit braucht. Mein Ansatz ist stiller, zurückhaltender. Meine Fotografie reportagehaft, ohne viel Schnickschnack. Dazu passt die X-Pro1 hervorragend. Ich vermisse nichts. Im Gegenteil: Es ist nicht nur ein ausreichender Ersatz, sondern für mich ein Schritt nach vorn.

Und ganz banal: In diesen Fujifilm-Kameras steckt in einem kleineren und kompakteren Gehäuse eine Bildqualität, für die ich zuvor zum großen und schweren Vollformatboliden greifen musste. Auch das war für mich ausschlaggebend im Hinblick auf meine Outdoorabenteuer, bei denen zwar jedes Gramm zählt, ich aber auch eine gewisse Leistung von meiner fotografischen Ausrüstung erwarte.

martin-huelle-interview04
© Martin Hülle

Du berichtest in Deinem Blog viel über Deinen Workflow in der digitalen Dunkelkammer und bei der Bildauswahl. Ist es bei Dir auch so ca. 80/20? 80% der Bilder überstehen Deinen kritischen Blick nicht? Und wie viel Zeit brauchst Du, um alle Bilder einer Reise zu finalisieren?
Ich lösche schon unterwegs sehr viel und gehöre ohnehin zu denen, die eher wenig, dafür aber sehr gezielt, fotografieren. Zu Hause fliegt aber nochmals ein guter Anteil der Bilder in den Papierkorb. Was mir nicht auf Anhieb gefällt, kommt weg. Nach einer Reise sind das vielleicht nochmals etwa 30%. Aber auch vom Rest – den Fotos, die ich dann behalte und bearbeite -, ist meist nur ein Bruchteil so, dass ich ihn richtig stark finde. Letztendlich zeigt sich das dann auch bei Veröffentlichungen: Von einer Tour sind es immer wieder dieselben Bilder und Motive, die Einzug in die Magazine finden. Eben die Fotos, in denen die Geschichte am stärksten zum Ausdruck kommt.

Bei der Nachbearbeitung bin ich langsam. Das kann schon mal ein paar Wochen dauern, bis ich dann ein paar hundert Bilder fertig habe.

Wie planst und überstehst Du Deine Reisen? Für mich als Außenstehenden erscheint die größte Schwierigkeit in der Nahrung zu liegen: genug Proviant & Wasser, um wochenlang zu überleben. Was aber ist für einen Profi wie Dich die größte Herausforderung auf Deinen Reisen?
Zum Glück bin ich ja ein Nordlandfreak. Dort ist Wasser kaum ein Problem. Im Sommer kann man bedenkenlos aus den Flüssen und Seen schöpfen und im Winter muss nur der Schnee geschmolzen werden. In Sandwüsten wäre das anders. Der Proviant ist hingegen tatsächlich ein „schwerwiegenderer“ Ballast. Bei Rucksacktouren ist die Mitnahmemöglichkeit begrenzt – bei ca. 14 Tagen ist für mich Schluss. Möchte ich länger unterwegs sein, muss ich unterwegs für Nachschub sorgen. In der kalten Jahreszeit – mit einem Pulka-Schlitten zum Transport der Ausrüstung im Schlepptau – kann ich mehr einpacken und wochenlang autark unterwegs sein.

Die größte Herausforderung bei meinen Touren ist in erster Linie das Wetter. Schneestürme, Minusgrade. Besonders bei den polaren Unternehmungen. Wichtig und Voraussetzung ist Erfahrung, die es gilt über Jahre aufzubauen. Klein anfangen und dann die Schwierigkeiten steigern. Die richtige Ausrüstung dabei haben und wissen, damit umzugehen. Körperlich – und mental – fit sein.

Die genaue Planung erwächst immer einer Idee und ist unterschiedlich aufwendig und langwierig. Auf meine erste Expedition über das grönländische Inlandeis haben wir uns gute 1,5 Jahre vorbereitet.

martin-huelle-interview05
© Martin Hülle

Dieses Frühjahr kam die Diagnose, die viele erschüttert hat: Epilepsie. Du bist sehr offensiv mit der Krankheit umgegangen und hast auch schon wieder Deine erste Reise hinter Dir, die für Dich ja praktisch ein Reboot war. Wie geht es Dir heute? Wie spielt Dein Körper mit? Wie gut ist es wieder Richtung Kälte zu wandern?
Ja, die Diagnose Epilepsie warf mich für gute 2,5 Monate völlig aus der Bahn und es dauerte, bis sich vor allem auch mein Körper auf die Medikamente eingestellt hatte. Das war keine schöne Zeit, aber ich versuchte sie schnell als Chance zu begreifen, Dinge zu verändern und einen „Neuanfang“ zu starten, der mich voran bringen soll. Von der Krankheit lasse ich mich dabei nicht weiter beirren. Seit einer sehr erholsamen Familienreise nach Schweden und Norwegen diesen Sommer geht es mir gut. Die Pillen wirken und machen ihren Job – ich hatte keine weiteren Anfälle.

Daher habe ich es auch gewagt, allem zum Trotz allein in die Sarek & Padjelanta Region aufzubrechen und diese wilde Berglandschaft in Lappland zu Fuß zu durchqueren. Es war fantastisch und der Gedanke an die Epilepsie während meiner Zeit dort oben kaum präsent.

Mittlerweile laufen die Vorbereitungen und das Training für eine neue Expedition. Im kommenden März/April soll es mit einer Gruppe, die ich als Guide führen werde, quer durch das einsame Hochland Islands und über den größten Gletscher Europas gehen. Eine sehr anspruchsvolle Skitour bei der das Wetter auch mal wieder unberechenbar sein kann. Ich freue mich sehr darauf und sollte ich auf unserem Weg mal umkippen, wird es auch nicht schlimm sein.

Welches Land würdest Du einem Anfänger empfehlen, der gerne eine Tour in der Kälte machen will, aber für einen langen Marsch nicht fit genug ist.
Am besten ist es, zu Hause vor der eigenen Haustüre anzufangen. So habe ich es auch gemacht. Der nächste Schritt könnte dann eine Hüttentour in Skandinavien sein, bevor man sich weit abseits der Zivilisation mit einem Zelt ins Abenteuer stürzt. Der Winter verzeiht keine Fehler. Je extremer das Umfeld, umso mehr Wissen muss man mitbringen.

martin-huelle-interview06
© Martin Hülle

Welche Geschichte von Deinen Reisen bringt Dich auch nach Jahren noch zum Lachen und welche treibt Dir Wehmut ins Herz?
Naja, erst auf meiner letzten Tour passierte mir etwas … Ich wanderte im Sarek Nationalpark bei grässlichem Regenwetter über einen zugewachsenen Pfad, stierte dabei gedankenverloren auf den Boden und war schon bis auf die Unterhose durchnässt, als ich mit Kopf und Rucksack vor einen Ast lief, das Gleichgewicht verlor und rückwärts in eine tiefe Pfütze flog. Ich rappelte mich auf und hätte fluchen können, aber ich tat es nicht. Ich konnte nur über mich selbst lachen.

Anders war es vor einigen Jahren, nachdem ich den Vatnajökull auf Island überquert hatte. Tagelang war ich allein in der Eiswüste des Gletschers unterwegs gewesen und erreichte wieder „festes Land“. Es war ein sehr emotionaler Moment und die Tränen bahnten sich ihren Weg – vor Glück es geschafft zu haben. Gerade Solotouren können extreme Gefühle hervorrufen, aber es sind diese Momente in der Natur, für die sich alle Strapazen und Entbehrungen lohnen.

martin-huelle-interview07
© Martin Hülle

Wie gehst Du damit um, Deine Familie auf bestimmten Reisen nicht mitnehmen zu können?
Auf die meisten Reisen kann ich meine Familie nicht mitnehmen. Meine Frau ist Lehrerin und auch voll berufstätig und unsere Tochter ist gerade einmal 2,5 Jahre alt … Ich muss es professionell sehen: Es ist Teil meines Jobs in die Wildnis aufzubrechen und dann nicht ständig erreichbar zu sein. Mobiltelefone funktionieren in der Abgeschiedenheit nur selten. Es ist nicht immer leicht, aber dafür sehe ich meine Familie in der Zeit, in der ich daheim bin, sehr viel. Vielleicht mehr als andere, die „normalere“ Berufe haben.

martin-huelle-interview08
© Martin Hülle

Welchen Tipp kannst Du einem Anfänger geben, der seine Fotos sofort verbessert?
Das geht nicht in Sekunden. Es ist immer ein Prozess. Wichtig ist aber, sich nicht zu sehr auf die Technik zu konzentrieren, sondern mehr auf das künstlerische, die Bildinhalte, die Geschichte. Fotos dürfen fehlerhaft sein, wenn sie denn an sich ausdrucksstark sind. Es ist gut an Themen zu arbeiten, sich über einen längeren Zeitraum mit einer Sache zu beschäftigen. Und sich und seine Bilder dabei immer wieder zu hinterfragen. Wie kann ich meine Idee, das, was ich zeigen möchte, besser fotografieren, um die Geschichte, die dahinter steckt, die ich erzählen will, klarer herauszustellen. Gute Fotos entstehen im Kopf und nicht einfach durch vielfachen Druck auf den Auslöser.

Bei ein paar Milliarden Fotos im Netz und dem langsamen Sterben der Zeitungen, wie siehst Du Deine Zukunft als Fotograf und Schreiber? Was kann ein Einzelner noch machen, um in diesem Meer wahrgenommen zu werden?
Als erstes sollte man bei sich selbst aufräumen. Man muss nicht alles, was man auf den Film oder Chip bannt, auch ins Netz stellen. Ein bisschen mehr Selektion täte da zuweilen ganz gut. So kann man auch eher ein eigenes Profil herausarbeiten und geht nicht bereits in seiner eigenen Masse unter.

Ich denke, dass es immer einen Markt und ein Bedürfnis für gute Geschichten in Bild und Text geben wird. Ob die nun in Printmagazinen oder Online erscheinen, ist da erstmal zweitrangig. Wichtig ist in erster Linie Qualität.

Nenne uns bitte ein Buch, welches das Leben unserer Leser verändern wird. Egal ob Roman oder Sachbuch.
Na, ob ein Buch wirklich ein Leben verändern kann? Ich bin sehr beeindruckt von den Fotos des Isländers Ragnar Axelsson, dessen bisherige Bildbände zu den Highlights in meinem Bücherregal gehören. Ob „Die Seele des Nordens“ oder „Die letzten Jäger der Arktis“ – beide erzählen wunderbare Geschichten, eindringlich eingefangen in Schwarz und Weiß. Zudem bin ich ein großer Fan von Andy Spyra, dem jungen deutschen Fotojournalisten. Sein Buch „Exodus“ kann ich auch jedem ans Herz legen.

martin-huelle-interview09
© Martin Hülle

Welche Frage hätten wir Dir noch stellen müssen? Und was ist die Antwort?
Welches sind Deine nächsten Ziele?
Die Island Expedition hatte ich schon erwähnt. Sie ist Teil eines größeren Reise- und Fotografieprojekts, das mit meiner Sarek & Padjelanta Tour ihren Anfang nahm und welches noch etwa 1,5 Jahre andauern wird. In der Zeit sollen mich diverse Wander- und Skitouren zu allen Jahreszeiten in verschiedene nordische Länder und Regionen führen, an deren Ende ich damit eine ganz persönliche Liebeserklärung an diese Landschaften zum Ausdruck bringen möchte, die mir in meinem Leben so viel bedeuten. Und: Es wird Anfang 2014 ein „Making-of“ Reisefotografie-Ratgeber zu diesem Projekt erscheinen.

Hier noch 6 ganz kurze Fragen:
Bauch oder Kopf?
Bauch.
Handwerker oder Künstler?
Träumer.
Schach oder Poker?
Weder noch. Dann eher „Mensch ärgere Dich nicht“.
Wald oder Berg?
Der Wald ist Heimat. Der Berg Sehnsucht.
Schnee oder Eis?
Im Schnee fällt man weicher.
Festbrennweite oder Zoom?
Beides.

Vielen Dank für Deine Zeit und viel Glück mit all Deinen zukünftigen Projekten.